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Viel zu tun

Öffentlicher Verkehr im Wandel

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Im Interview verrät Ingo Wortmann, Präsident des VDV, warum der ÖPNV bei der Verkehrswende eine Schlüsselrolle innehat – und welchen Herausforderungen er sich stellen muss.

Der öffentliche Verkehr nimmt eine immer wichtigere Rolle ein. © Julia Joppien -unsplash.com

Der öffentliche Verkehr nimmt eine immer wichtigere Rolle ein. © Julia Joppien -unsplash.com

Im Gespräch mit Ingo Wortmann, Präsident des Verbandes Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) und Geschäftsführer der Münchner Verkehrsgesellschaft (MVG)

In der Verkehrswende nimmt der ÖPNV eine Schlüsselrolle ein – seine Umstrukturierung ist mit diversen Anforderungen und Herausforderungen verbunden.

Herr Wortmann, die neue Bundesregierung möchte das Klima schützen und auf Bus und Bahn setzen.

Ja, es gibt nicht nur deswegen ungeheuer viel zu tun.

Die Ausgangsbedingungen sind besser denn je. Stimmen Sie dieser Aussage zu?

Ich orientiere mich als Ingenieur mit Vorliebe an den Fakten. Nehmen wir die jüngste „Pendlererhebung“ vom Statistischen Bundesamt. Da wird unter anderem gefragt, wie die rund 40 Millionen Erwerbstätigen in unserem Land täglich zur Arbeit kommen. Das Ergebnis ist ernüchternd: Bei allen unbestreitbaren Fortschritten bei Bus und Bahn – das Auto ist das bevorzugte Verkehrsmittel auf dem Weg zur Arbeit. Zwei Drittel fahren nach eigenen Angaben mit dem Pkw in die Firma oder in den Betrieb – auch auf kürzeren Strecken. Den öffentlichen Nahverkehr wie Bus, Straßenbahn, U-Bahn oder Zug nutzen gut 13% auf dem Weg zur Arbeit. Noch weniger steigen übrigens auf das Rad: Nur jeder zehnte Erwerbstätige fährt regelmäßig mit dem Fahrrad zur Arbeit, zu Fuß sind die wenigsten Pendlerinnen und Pendler unterwegs. Man muss diese Ergebnisse natürlich richtig einordnen, das Ganze sähe etwas besser aus, wenn man sich nur die Arbeitswege innerstädtisch oder in den Ballungsräumen anschaut. Aber trotzdem: Auch für die Städte von morgen brauchen wir hier höhere Zahlen für den Umweltverbund aus ÖPNV, Rad- und Fußverkehr.

Und Corona hat das Mobilitätsverhalten noch weiter in Richtung Pkw verschoben.

Hier und da. Aber nicht in dem hohen Maße, wie wir davon in der Zeitung lesen. Die amtlichen Statistiker sagen, dass die Corona-Pandemie oder die Debatte über Klimaschutz auf das Fahrverhalten der Pendlerinnen und Pendler wenig Einfluss hatte: Im Vergleich zur letzten Erhebung für das Jahr 2016 sind die Prozentanteile der einzelnen Verkehrsmittel nahezu unverändert. Was in Corona-Zeiten viel mehr Einfluss hatte, das waren die fehlenden Fahrtanlässe durch Kurzarbeit oder weitgehende Beschränkungen des öffentlichen Lebens.

Können Sie zwischen Stadt und Land differenzieren?

Das Auto nutzen viele nicht nur auf langen Anfahrtswegen, etwa auf dem Land. Auch auf kürzeren Arbeitswegen kommt es regelmäßig zum Einsatz: Fast die Hälfte aller Arbeitswege ist laut der Erhebung weniger als zehn Kilometer lang. Für rund ein Drittel ist der Weg zur Arbeit bis zu 25 Kilometer lang, und nur 14 Prozent legen 25 bis unter 50 Kilometer zurück. Das Statistische Bundesamt spricht von einer „ungebrochenen Dominanz des Autos“ als Beförderungsmittel. Das zeigt auch die Zahl der Neuzulassungen: Anfang 2021 waren 48,2 Millionen Pkw in Deutschland zugelassen, 14% mehr als zehn Jahre zuvor. Der Trend geht zum Zweit- oder Drittwagen. Diese Zahlen sind die Ursache für viele Probleme in unseren Städten: CO2-Emissionen, Luftverschmutzung, immer längere Staus, Flächenversiegelung und höhere Unfallrisiken.

Wir wissen aus der Geschichte: Jede Dominanz findet einmal ihr Ende.

Aber nicht ohne menschlichen Veränderungswillen und wohl auch nicht ohne ordnungspolitische Maßnahmen. Für unsere Branche leite ich daraus ab: Die beschriebene Ausgangsposition ist eindeutig. Die Rahmenbedingungen haben sich, zum Beispiel für Infrastruktur-Investitionen, verbessert. Mit Blick auf die Klimaschutzziele und die Eile, die diesbezüglich geboten ist, fehlt es jedoch an grundsätzlichen Veränderungen, flankiert durch verkehrspolitische Entscheidungen. Die Branche steht bereit, ihren Beitrag zu leisten. Dies hat sie auch in der Vergangenheit getan. Denn die Tendenz spricht für uns.

Können Sie uns das näher erläutern?

Es gibt zwei Entwicklungen: Zum einen hatten wir bis einschließlich 2019 tatsächlich 22 Jahre lang Fahrgastrekorde zu verzeichnen, trotz finanziell schwieriger Rahmenbedingungen und, daraus folgend, ohne grundsätzlichen Aufwuchs beim Nahverkehrsangebot. Das zeigt, dass sich die Menschen dem ÖPNV zuwenden, wenn das Angebot stimmt. Aber die Bus- und Bahnunternehmen wurden viele Jahre hinweg auf Kosteneffizienz getrimmt. Seit einigen Jahren verspüren wir aber einen neuen Kurs seitens der Politik und der Kommunen, der vor allem auf Klimaschutz, Wachstum, Angebotsausbau und Digitalisierung ausgerichtet ist. Hinzu kommt die Elektrifizierung im Bus-Bereich. Dieser Wachstumspfad braucht Zeit, damit die Fahrzeug-Flotten, die Infrastruktur und das Personal aufgebaut werden können. Aber diese Zeit haben wir eigentlich kaum noch, wenn wir auf das Erreichen der Klimaschutzziele blicken.

Sie sprechen es an: Bereits 2045 soll Deutschland klimaneutral sein. Schaffen das die Kommunen?

Diese Verpflichtung ist der Bund für unser Land eingegangen, und zwar inklusive des ambitionierten Zwischenziels bis 2030. Die gewollte und notwendige Klimaneutralität wird den Verkehrssektor in einem unvergleichlichen Maße umbauen. Die neue Bundesregierung ist gefordert, diese Veränderungen zu organisieren – und zwar unter wirtschaftlichen, verkehrlichen, energetischen und nicht zuletzt sozialen Gesichtspunkten. Die Umsetzung indes findet vor Ort statt, in den Städten und Gemeinden, bei den Verkehrsunternehmen und -verbünden. Ungeklärt ist – neben allgemeinen Aussagen, die einen abstrakten Zuwachs bei Bus und Bahn sehen – wie der klimaneutrale Umbau im Verkehrsbereich konkret aussehen kann – und welche Voraussetzungen dafür vorliegen müssen. Sicher sind zwei Dinge: Erstens wird die Branche alles tun, um einen relevanten Beitrag zum Erreichen der Klimaschutzziele zu leisten. Zweitens: Gemäß einem Gutachten, das der VDV als Branchenverband in Auftrag gegeben hat, können mit einer bundesweiten Angebotsoffensive und einem Ausbau des ÖPNV die Klimaschutzziele bis 2030 erreicht werden. Die CO2-Emissionen im motorisierten Individualverkehr und im ÖPNV könnten so im Verhältnis zu 1990 bis 2030 um 53% gesenkt werden.

Das sind gute Nachrichten.

Ja. Und nein, denn das „Wie“ und „Woher“ sind entscheidend. 2030 – das ist in bald acht Jahren, das ist in Planungs- und Bestellzyklen im ÖPNV buchstäblich übermorgen. Wir brauchen, und zwar am besten gleichzeitig, mehr ÖPNV-Kapazitäten und Angebote in der Stadt und vor allem auf dem Land, im Linienverkehr und im Linienbedarfsverkehr: Die Fahrzeugkilometer müssen bis 2030 um 60% steigen, die Personenkilometer um 24%. In diesem Wachstumspfad stiegen die Erlöse bis 2030 um etwa 50%. Die Kosten für Personal, Energie, neue Fahrzeuge, Elektrifizierung der Antriebe etc. wachsen dann jedoch um rund 90%. Bei Fortschreibung der öffentlichen Finanzierung bliebe allein im Jahr 2030 eine Finanzierungslücke von rund elf Milliarden Euro, wenn man moderate Ticketanpassungen unterstellt. Der Bund ist also in höchstem Maße gefordert, den Ländern zu helfen, damit seine eigenen Klimaverpflichtungen im Verkehrssektor erreicht werden können.

Was tut Ihre Branche zur Erreichung der Klimaverpflichtungen?

Wir müssen liefern, vor allem bei drei Punkten: Priorität hat zunächst die Fahrgastrückgewinnung nach der Pandemie, um die Finanzierung des Angebotes sicherzustellen. Erste Verkehrsunternehmen und -verbünde gehen neue Wege, mit Sonderaktionen, flexiblen und digitalen Tickets, Mobilitätskonten – die allesamt den veränderten Mobilitätsgewohnheiten Rechnung tragen.

Stichwort Corona – sind die Leute wieder bereit, mit Bus und Bahn zu fahren?

Dass die Menschen wieder Vertrauen gegenüber dem ÖPNV haben, hat das „Deutschland Abo-Upgrade“, unsere bundesweite Dankes-Aktion, gezeigt: 706.481 Fahrgäste haben teilgenommen, um den Nah- und Regionalverkehr über den Geltungsbereich des eigenen Abo-Tickets hinaus zu nutzen. Aber zurück zu dem, was die Branche tun muss: Wir müssen außerdem die deutlich höheren Investitionsmittel, die uns die letzte Bundesregierung bereitgestellt hat, nutzen, um die Infrastruktur zu erneuern und auszubauen: Die Gemeindeverkehrsfinanzierungsmittel sind nicht ausgeschöpft, trotz des erweiterten Förderkataloges. Diese Mittel stehen bereit, Planungsmaßgaben wurden beschleunigt. Das historische Zeitfenster müssen wir nutzen, denn auch die Automobilindustrie rüstet sich für den Wandel – und bislang sehen wir nur wenige Einschränkungen für den Pkw-Verkehr in unseren Städten. Aber allein mit dem E-Pkw werden wir keine Mobilitätswende schaffen.

Fahrgäste zurückgewinnen, Infrastruktur ausbauen – wie kann das personell gelingen?

Wir müssen uns um qualifiziertes Personal kümmern, das diesen Wandel erst ermöglicht. Im ÖPNV werden bis 2030 zusätzlich rund 110.000 Mitarbeitende für die Mobilitätswende, für den Ausbau, für Digitalisierung und Modernisierung, die Elektrifizierung und Automatisierung gebraucht. Hinzu kommt, dass in den nächsten zehn Jahren die große Gruppe der „Baby Boomer“ in den Ruhestand geht. Es ist darum richtig, dass die Arbeitgeberinitiative (in-dir-steckt-zukunft.de) der Branche ihre Arbeit fortsetzt und den Personalabteilungen in den Unternehmen Hilfestellung leistet.

Wie hat sich Corona auf die Personalsituation bei den Verkehrsunternehmen ausgewirkt?

Es ist unverändert so, dass wir mehr denn je gute Leute suchen und zwar in allen Bereichen. Wir setzen auch auf Quereinsteigende, die wir früher nicht ausreichend im Blick hatten. Wir wollen vor allem mehr Frauen für unsere Unternehmen gewinnen, setzen auf Quereinsteigende, auch Studienabbrechende – und vielleicht kommen auch welche aus den Wirtschaftszweigen, die infolge der Corona-Krise stark schrumpfen mussten. Tatsächlich zeigte eine Branchenumfrage im Coronajahr 2020, dass rund 76% der Unternehmen mehr Einstellungen als 2019 vornahmen. Rund ein Drittel hat bis zu zehn Prozent mehr Personal eingestellt, rund 20% der Befragten haben sogar bis zu 15% und mehr neue Stellen besetzt als im Jahr davor.

Sind Bus und Bahn denn attraktive Arbeitgeber?

Wir haben unsere Vorzüge. Die Zahl der Bewerbungen in der Branche hat im letzten Jahr zugenommen, denn wir bieten krisensichere Jobs. Es gab in der Branche während der Corona-Krise so gut wie keine Stellenkürzungen oder Pandemie-bedingte Kurzarbeit, die Unternehmen haben zu jedem Zeitpunkt der Krise nahezu das komplette Leistungsangebot aufrechterhalten. Insofern bleibt der Personalbedarf der Branche in Corona-Zeiten und danach ungebrochen hoch. Die Bus- und Bahnunternehmen bieten – das steht auf der Habenseite – zahlreiche Jobs, die zukunftsfähig und angesichts der Klimakrise auch sinnstiftend und nachhaltig sind.

Vielen Dank für das Gespräch.

Ingo Wortmann

Ingo Wortmann

Ingo Wortmann

Ingo Wortmann ist seit 2018 Präsident des Verbandes Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) und seit 2016 Vorsitzender der Geschäftsführung der Münchner Verkehrsgesellschaft mbH (MVG). Zuvor war er u.a. Leiter der Abteilung Verkehrsplanung und Marktforschung bei der DVB AG sowie Mitglied des Verkehrsausschusses der Stadt Wuppertal.

Autorin

Csilla Letay