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Aus allen Perspektiven

Straßen mit Daten aus der Community sicherer machen

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Im Gespräch mit Michaela Grahl, Projektmanagerin bei der Initiative für sichere Straßen GmbH, über die Hintergründe der Website gefahrenstellen.de, Daten in der Verkehrssicherheitsarbeit und sichere Schulwege.

Michaela Grahl | © Initiative für sichere Straßen GmbH

Michaela Grahl | © Initiative für sichere Straßen GmbH

Was ist die Motivation für die Website Gefahrenstellen sowie für die Initiative für sichere Straßen?

Die Motivation kam aus einer persönlichen negativen Erfahrung. Einer der drei Gründer (Arno, Henrik und Jörn Wolter) hatte selbst eine negative Erfahrung an einer Gefahrenstelle gemacht – so eine typische Stelle, die im Grunde in der Umgebung jeder kannte und sagte „Dort lasse ich mein Kind nicht vorbeifahren, weil ich weiß, dass dort immer die Reifen quietschen“. So kam die Idee auf, dass man dieses Wissen digitalisieren und für andere bereitstellen müsste.

Das Unternehmen dahinter ist im Prinzip ein kleiner IT-Spezialist. Aus dieser Perspektive kam die Idee: Lass uns doch einmal etwas Digitales für die Verkehrssicherheit schaffen – das war im Jahr 2014. Das Ganze wurde dann im Rahmen des Forschungsprojekts „FeGiS+“ (Früherkennung von Gefahrenstellen im Straßenverkehr durch Smart Data) aufgebaut.

An wen wendet sich das Projekt? Die Karte ist ja sehr visuell und kann ohne weitere Expertise benutzt werden. Aber ist es auch als Tool für Planerinnen und Planer gedacht?

Die Idee war ja, ein ganzheitliches Konzept aufzubauen, das Mehrwert für alle Bereiche bietet. Der Gefahrenscore, so wie er jetzt in der Karte zu sehen ist, ist vor allem für die User gedacht, für die Verkehrsteilnehmenden, weil er leicht zu interpretieren ist. Für die Kommunen, für die Verkehrsplanerinnen und Verkehrplaner sowie auch für die Polizei haben wir einen Extra-Zugangsbereich, das Pro-Portal, wo man die Daten etwas genauer analysieren kann.

Der Gefahrenscore berechnet sich dann vor allem aus den polizeilichen Unfalldaten?

Aktuell verwenden wir den öffentlichen Destatis-Unfallatlas – der enthält die Unfälle, bei denen Menschen verletzt wurden oder getötet wurden, die sind am besten dokumentiert. Das ist die sehr valide Basis und macht momentan noch den Hauptteil des Scores aus. Uns geht es aber auch um die Früherkennung. Also was ist, wenn jetzt noch nicht so viele Unfälle passiert sind, sich diese Stelle aber gerade entwickelt? Da kommen die Userdaten ins Spiel, zusammen mit den Fahrzeugdaten. Aus Telematiktarifen haben wir sicherheitskritische Bremsmanöver – also kritische Bremsdaten. Wir machen das sehr punktuell, legen diese Informationen auf Straßenabschnitte und bewerten die Straßenabschnitte nach der Methodik der RWTH Aachen (ein FeGiS+-Projektpartner, Anm. d. Red). Die erkennt dann, wenn eine Stelle vom Standardwert abweicht und erzeugt eine Einfärbung. Es gibt also eine Grundbewertung über die Unfalldaten und diese Zusatzdaten, die beim Überschreiten festgelegter Grenzwerte den Gefahrenlevel erhöhen.

Auf der Karte gibt es ja quasi zwei verschiedene Ebenen: die Nutzermeldungen und den Score; also einmal das, was aus den Daten ersichtlich gefährlich ist, dann die Stellen, an denen Menschen sich unwohl fühlen. Wie hängt das zusammen?

Das mischt sich ein bisschen. Wir haben diesen Zusammenhang in Städten untersucht, in denen wir viel Werbung gemacht haben – Bonn und Aachen zum Beispiel. Mit unseren wissenschaftlichen Partnern haben wir im Rahmen des Forschungsprojekts FeGiS+ über 200 Ortsbegehungen gemacht. Dabei haben wir festgestellt, dass doch viele Usermeldungen zu den Stellen eingegangen waren, die auch schon über die Unfalldaten im Score sehr rot eingefärbt waren. Das sind dann häufig schon bekannte Unfallhäufungsstellen, die wir dann aus Usersicht nochmal bestätigen. Andere Stellen waren allerdings bisher noch nicht so aufgefallen – viele haben wir vor Ort auch als gefährlich beurteilt. Aber nicht jede Meldung hat sofort einen Einfluss auf den Score.

Wie sieht dabei der Prozess aus?

Wir bewerten die Meldungen anhand der Kommentare, als Eingangskontrolle, ob das eine Meldung in unserem Sinne ist. Dann bewerten wir automatisch danach, wie viel Interaktion es an dieser Gefahrenstelle gibt. Ein Pin ist bereits eine Zusammenfassung mehrerer Interaktionen von Usern: Der eine meldet, der andere gibt einen Kommentar ab, der nächste unterstützt. Daraus ergibt sich ein Aktivitätslevel, und ab einem gewissen Level fließt das mit in den Score ein.

Prüfen Sie die gemeldeten Stellen dann noch manuell oder gibt es einen Prozess dafür?

In dem Forschungsprojekt haben wir festgestellt, dass die Meldungen schon sehr valide sind. Bei manchen Meldungen, bei denen nicht so viele Informationen vorlagen, weil der Aktivitätslevel relativ niedrig war, war aber manchmal einfach nicht klar, was gemeint ist.

Und daraus haben sie dann quasi diesen Schwellenwert erarbeitet.

Genau, einfach aus den Erfahrungen in Kombination mit diesen Vor-Ort-Begehungen.

Es gibt auch andere Citizen-Science-Projekte, die so ähnlich arbeiten – zum Beispiel SimRa oder die GehCheck-App des FUSS e.V. Könnte man diese Daten irgendwie verschneiden?

Wir tauschen uns regelmäßig mit anderen Projekten aus und prüfen immer ab, ob das machbar ist. Die Problematik ist oft, dass die Projekte Daten anders abfragen. Bei uns werden sie sehr strukturiert erfasst, sodass wir die Bewertung auch automatisieren können. Die anderen Portale haben alle eher eine andere Richtung – de werden nicht nur Gefahrenstellen abgefragt, sondern auch andere Dinge. Deshalb ist das schwierig.

Eigentlich wäre es schon schön, wenn man am Ende ein großes Projekt hätte, mit Informationen aus allen möglichen Datenquellen und für alle Verkehrsarten.

Absolut. Eigentlich ist das auch unser Ansatz. Über die User erfassen wir ja alle Arten von Verkehrsteilnehmern, aber wir denken auch immer darüber nach, welche Daten hinzukommen könnten. Es muss inhaltlich und von der Datenqualität passen. Das kann man aber nicht mal eben so integrieren, sondern muss schauen, wie die Datenquelle zu bewerten ist. Das ist ein bisschen Zukunftsmusik.

Im Moment arbeiten Sie an dem Projekt „HarMobi“ (Harmonizing Mobility), das möglichst viele Verkehrsmodi einbeziehen will. Worum geht es da?

Der Hintergrund ist, dass wir bei FeGiS+ Gefahrenstellen identifiziert haben und viele davon Kreuzungsbereiche waren. Wie wir festgestellt haben, ist es schwer, dort herauszufinden, was wirklich der Konflikt ist, wenn nur eine Usermeldung und vielleicht die Perspektive aus den Fahrzeugdaten vorliegt. In „HarMobi“ wollen wir die Situation zusammen betrachten, indem wir versuchen, alle Arten von Verkehrsteilnehmern zu erfassen.

Auch bei Ortsbesichtigungen ist die Gefahr nicht immer ganz klar. Das haben wir selbst gesehen: Manchmal ist das abhängig von ganz bestimmten Konstellationen – Tageszeiten oder Situationen, in denen vielleicht ein besonders starker Lkw-Verkehr herrscht und die Sichtverhältnisse verändert. Das ist manchmal so diffus, dass man die Gefahr bei der Ortsbesichtigung nicht immer erkennen kann. Und dann geht es darum, aus den Daten heraus ableiten zu können, wie sicher diese Kreuzung ist. Am Ende soll es eine Hilfestellung in der Planung geben, damit man schon vorher auswerten kann, ob eine Planungsalternative sicher ist oder nicht.

Aber wie können in der Planungsphase Daten hierbei helfen?

Ziel der Sache ist es, etwas über typische Konflikte an Kreuzungen einer bestimmten Bauart herauszubekommen. Anhand der Daten, die wir sammeln, wollen wir zu diesen Kreuzungstypen herausfinden, wo die typischen Konfliktsituationen sind oder an welchen Kreuzungen es besser läuft. So kann man schon in der Planungsphase mit diesen standardisiert und in hoher Menge erhobenen Daten sagen, wo es wahrscheinlich einen Konflikt geben wird. Aber wir sind hier noch ganz am Anfang, dazu kann ich Ihnen wahrscheinlich in einem Jahr mehr berichten.

Es gibt bereits standardisierte Entwürfe für Knoten, etwa in den Richtlinien für die Anlage von Stadtstraßen (RASt), zu denen Fachleute sich Gedanken gemacht haben, wie die sicherste Kreuzung aussieht und wie unterschiedliche Belange gegeneinander abgewogen werden können. Wie erhoffen Sie sich, dies mit Ihren Daten zu verbessern?

Man merkt im Laufe der Zeit, dass Dinge, die man einmal in einer bestimmten Weise geplant hatte, heute nicht mehr gut funktionieren, weil sich etwa die Verkehrsströme ändern. Zum Beispiel nimmt der Radverkehr stetig zu, dafür sind manche Kreuzungen nicht gut ausgelegt. Da ist man sich unter Umständen noch gar nicht so sicher, wie hier eine sichere Verkehrsführung aussehen könnte. Dafür wollen wir auf jeden Fall Daten nehmen. Und die E-Scooter verkomplizieren das Ganze auch noch zusätzlich.

Wie kommen Sie an die Daten der E-Scooter?

Wir haben Kooperationen. Das Projekt ist zunächst nur auf Aachen bezogen, und dort auf bestimmte Kreuzungsbereiche, die wir vorab definieren, weil wir dort eine sehr gute Datenlage haben. Als Kooperationspartner haben wir auch einen Pedelec-Verleih – die Pedelecs haben ein ganz anderes Fahrverhalten, ganz andere Geschwindigkeiten als normale Fahrräder – gerade in Kreuzungsbereichen. Außerdem werten wir Lkw-Telematik, Pkw-Telematik, Busse und E-Scooter-Daten aus. Fußgängerinnen und Fußgänger sind im Prinzip auch dabei, aber wahrscheinlich eher nur über Kameradaten, denn es ist schwierig, sie zu erfassen.

Wir versuchen, wirklich alle abzugreifen, die an dieser Kreuzung unterwegs sind: Entweder haben sie schon selbst Sensoren an ihren Fahrzeugen verbaut oder wir entwickeln noch eine App, mit der dann diese Situation erfasst werden kann.

Auf Ihrer Website gefahrenstellen.de haben Sie außerdem eine Schulweg-Funktion. Wenn ich einen Start, ein Ziel und einen tolerierten Gefahrenscore auswähle, bekomme ich einen Schulweg zu Fuß oder mit dem Rad vorgeschlagen. Beim Ausprobieren habe ich manchmal ungewöhnliche Routen als Ergebnisse bekommen.

Der Schulweg-Planer ist noch eine Betaversion – das Routing ist eine der nächsten Weiterentwicklungen. Das Routing haben wir zusammen mit dem HeiGIT (Heidelberg Institute for Geoinformation Technology, Betreiber des Routingdienstes openrouteservice.org, Anm. d. Red.) entwickelt. Mit dem HeiGIT gehen wir noch einmal ganz eng in den Austausch und schauen, inwiefern wir auch solche Informationen wie Querungshilfen, Treppen, oder Radwege besser in die Kartenbasis integrieren können. Das Problem ist leider, dass diese Dinge nicht immer so gut dokumentiert sind, wie man es gerne möchte. In openstreetmap sind schon manche Dinge eingetragen – Ampeln, manche Querungsinseln – aber das ist ganz ortsunabhängig, manchmal sehr gut gepflegt, manchmal nicht.

© gefahrenstellen.de

© gefahrenstellen.de

Was war die Idee zu der Schulweg-Berechnung?

Wir wollen Eltern dazu bewegen, sich einmal zu überlegen, wie ihr Kind mit dem Fahrrad fahren könnte. Für Grundschulkinder gibt es noch die Schulwegpläne, aber auch ältere Kinder sind mit dem Rad unterwegs. Die Eltern sollen sich die Routen-Alternativen anschauen und dann wirklich selber entscheiden: Ist das besser als die Route, die man vielleicht immer mit dem Auto fährt, oder nicht? So wie die Polizei auch immer sagt: Sensibilisiert eure Kinder vor Gefahrenstellen. Das wollen mit unserem Angebot auch tun.

Das ist auch andersherum für die Eltern ein Prozess, wenn sie mit ihren Kindern unterwegs sind und sich einmal in ihre Position versetzen. Ich könnte mir vorstellen, dass man auf einmal den Verkehrsraum ganz anders wahrnimmt.

Ja, und die Eltern haben natürlich deutlich mehr Verkehrsteilnahme-Erfahrung als ihre Kinder. Wir merken einfach, dass das ein Thema ist, das viele interessiert. Auch Schulen kommen auf uns zu und finden es gut, einmal über solche Themen, wie auch u.a. Elterntaxis, zu sprechen. Die Eltern sind verunsichert, deshalb lassen sie ihre Kinder ja auch nicht alleine zur Schule fahren oder gehen.

Arbeiten sie dann direkt mit den Schulen zusammen?

Es gibt Schulen, mit denen wir zusammenarbeiten. Manche finden unsere Angebote gut und verlinken auf den Schulweg-Planer oder machen eine Aktion, bei der die Eltern Gefahrenstellen melden. So etwas haben wir zum Beispiel in Königs Wusterhausen bei Berlin gemacht. In der Region haben die Elterninitiativen dazu aufgerufen, Gefahrenstellen zu melden. Die Kommune arbeitet auch aktuell mit unserem Pro-Portal und versucht, die Gefahren zu beseitigen oder davor zu warnen. Die Stadt ist mit ihrem Präventionsrat sehr aktiv. Das finde ich toll.

Ist die Arbeit von Unfallkommissionen also auch ein Bereich, den Sie verbessern möchten?

Wir wollen es ein bisschen erleichtern. Wir haben festgestellt, dass die Kommissionen natürlich viel zu tun haben, je nach Region. Und wir möchten einfach gewisse Analysen automatisieren – deshalb ja auch dieser Gefahrenscore. Wir haben einfach festgestellt, dass der Bau von Kreuzungen oder das Beseitigen von Unfallhäufungsstellen gar nicht so einfach sind, wie man sich das vielleicht vorstellt. Manchmal fehlen dann eben Daten, um das Ganze richtig zu beurteilen und sicher zu sein, dass es danach auch besser funktioniert.