Köln: 22.–23.05.2024 #polismobility

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Städte und Regionen machen sich bereit für die neue Mobilität

Verkehrswende vor Ort

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Die Innenstädte sind überlastet, hier stimmt das Verhältnis zwischen dem Raum für Verkehr und dem Lebensraum für Menschen nicht mehr. Immer mehr Stadtbewohnerinnen und Stadtbewohner empfinden das als Belastung.

Marcell Philipp © Carl Brunn

Marcell Philipp © Carl Brunn

Objektiv betrachtet ist die Alternative Bus und/oder Fahrrad für viele tatsächlich gar keine Alternative, denn die Wege sind zu weit, der Takt ist zu dünn und die Möglichkeit, spontan zu bleiben oder auch kleinere Transporte zu erledigen, ist zu bedeutend, um auf einen eigenen Pkw verzichten zu können. Und wenn man schon ein Auto braucht, dann kann es ja auch gleich ein „Maximaleventualbedarfsfahrzeug“ sein, für alle Fälle. Das führt dazu, dass ständig Menschen mit viel zu großen Autos allein durch die Gegend fahren, häufig auf sehr kurzen Strecken und recht langsam, obwohl die Autos darauf ausgelegt sind, fünf Personen mit hoher Geschwindigkeit über lange Strecken zu befördern.

In jedem Betrieb, in dem eine neue Maschine angeschafft werden muss, sagen wir im Wert von 30.000 €, wird sehr genau geprüft, wie die Auslastung sein wird und wann sich die Investition amortisiert. Wir wollen effizient sein, und das ist eine wichtige Voraussetzung zur Ressourcenschonung. Nur beim Autokauf setzt diese grundsolide Eigenschaft offenbar aus. Da darf es gerne auch ein bisschen mehr sein, groß, schwer, schnell, und wenn dann auch noch „klimaneutral“ draufsteht, dann ist bestimmt auch „klimaneutral“ drin. Das Ergebnis ist eine Flotte von 49 Millionen Pkw in Deutschland, die 95 % der Zeit herumsteht, und in der kurzen Zeit, in der sie genutzt wird, wird sie falsch genutzt. Meist wäre ein deutlich kleineres Fahrzeug völlig ausreichend.

Wir brauchen also eine Verkehrswende: So kann es nicht weitergehen. Die stärksten Akteure sind dabei die ÖPNV-Betreiber, weil sie mit kommunalem Geld eine immense Gestaltungskraft haben, und die Autoindustrie, die die Freiheit der Mobilität für jede:n ohne schlechtes Gewissen aufrechterhalten soll, die Technik macht‘s möglich. Beide Akteure brauchen wir dringend, und es gibt große Fortschritte. Der ÖPNV kommt im digitalen Zeitalter an, multimodale Apps und On-Demand-Verkehre werden entwickelt, das sind Schlüsselkomponenten der neuen Mobilität. Und die Autoindustrie wird allein durch die Antriebswende vom Verbrenner zum Elektroauto den größten Batzen der CO2-Einsparung bewerkstelligen. Aber wird das reichen?

Zweifel sind angebracht, denn öffentliche Verkehrsunternehmen sind Garanten für Zuverlässigkeit und Gründlichkeit, aber sicher nicht für schnelle Veränderungen. Und Automobilhersteller wollen auch in Zukunft vor allem eins: Autos herstellen, und zwar möglichst viele. Damit kommen wir zum unbequemen Teil der Geschichte: Es wird auf uns selbst ankommen, auf jeden Einzelnen und jede Einzelne. Die Verkehrswende beginnt im Kopf. Wir bestimmen über unsere Mobilität. Der Verkehr ist nur die Summe der individuellen Entscheidungen. Es lohnt sich also, den Blick auf diese individuellen Entscheidungen zu richten.

Entscheidungen über das persönliche Mobilitätsverhalten werden beeinflusst durch die an meinem Wohnort vorhandene Infrastruktur und durch die im beruflichen Umfeld verfügbaren Angebote.

In der Stadt fällt es vergleichsweise leicht, auf ein eigenes Auto zu verzichten. Im ländlichen Raum fehlt dagegen das Angebot, und auch stadtnahe Quartiere haben häufig ein ungelöstes Problem der letzten Meile. Wer mehr als 300 m von einer Bushaltestelle entfernt wohnt, dem wird fast automatisch ein Auto zugestanden, das ist die Logik vieler städtischer Stellplatzsatzungen. Die Frage, ob denn nicht inzwischen genügend Möglichkeiten vorhanden sein könnten, um diese letzte „Meile“ auch anders zu bewältigen, wird noch viel zu selten gestellt.

Zumindest die Verpflichtung zur Errichtung von Stellplätzen sollte fallen, wenn die Aussicht besteht, dass durch Mikromobilität, On-Demand-Shuttle und kluges Carsharing ein Quartier neue Wege geht und seine Bewohner:innen mit deutlich weniger Pkw auskommen. Quartiere mit einer aktiven multimodalen Mobilitätssteuerung können also ein Schlüssel zur Lösung des Problems sein, und ebenso kommt Unternehmen eine wichtige Rolle zu.

Der Firmenwagen ist nicht nur ein Statussymbol für wenige hochgestellte Manager, sondern ein Massenphänomen der letzten Jahrzehnte. Durch die steuerlichen Privilegien der privaten Nutzung von Dienstwagen hat sich die Einstellung etabliert, dass oft der Arbeitgeber für die Bereitstellung von Mobilität zuständig ist. Mit Jobtickets versucht man, diesen Effekt auf den ÖPNV zu übertragen, Jobräder kommen als neue Spielart hinzu. Auch der zur Verfügung gestellte Parkplatz und der Ladestrom müssen in die Betrachtung miteinbezogen werden. Das führt dazu, dass Unternehmen immer kompliziertere Personalabrechnungen machen, um alle Mobilitätsangebote steuerlich korrekt zu verrechnen. Konsequent wäre nur eine Bereitstellung von multimodalen Mobilitätsbudgets.

Die betriebliche Mobilität ist auch deshalb von so zentraler Bedeutung, weil die täglichen Spitzenstunden und damit das größte Problem durch diese Zielgruppe verursacht wird. Der Berufsverkehr hat das größte Potenzial zur Optimierung in Form von Pooling aller Art, denn offensichtlich haben viele Menschen zur gleichen Zeit denselben Weg. Die klaffende Lücke zwischen der Verkehrsart Pkw und der Verkehrsart ÖPNV muss dabei aus der Perspektive von Unternehmen und Beschäftigten durch neue Angebote geschlossen werden. Die Aufforderung, häufiger den Bus zu nutzen, ist nur für sehr wenige Pendler:innen eine Lösung.

Der öffentlichen Hand kommt dabei die Aufgabe zu, ihre Angebotsstruktur zu überdenken: Starke Buslinien, enge Takte und große Gefäße sind durch nichts zu ersetzen, wenn sie gut ausgelastet sind. Im ländlichen Raum dagegen braucht es stattdessen smarte On-Demand-Angebote, und an der Schnittstelle dazwischen sind multimodale Hubs notwendig. Die Infrastruktur einer Stadt wird zukünftig nicht mehr ohne nahtlosen Umstieg in Mobility-Hubs auskommen, wenn die Entlastung der City gelingen soll. Das ist nicht zu verwechseln mit Park-and-Ride-Plätzen, die oft nur eine Alibi-Funktion hatten. Wir brauchen Umstiegsorte mit kurzen Wegen, gutem Service und Verkehrsmitteln, die auf ihre Nutzer warten – und nicht umgekehrt.

Mobility-Hubs wird es darüber hinaus auch an Endhaltestellen von Buslinien geben, um die Weiterverteilung on demand und mit einer breiten Auswahl an Verkehrsmitteln zu organisieren. Auch das ist eine Aufgabe für die öffentliche Hand.

Quartiere, die weniger gut angebunden sind, und Unternehmen in Gewerbegebieten abseits der ÖPNV-Routen werden ebenfalls Mobility-Hubs ausbilden, denn multimodale Angebote erfordern reale Orte, an denen sie verknüpft werden. Diese Anwendungsfälle jedoch sind nicht Aufgabe der kommunalen Träger, sondern sie werden von Unternehmen entwickelt und betrieben. Das ist gut so, denn hier ist eine sehr individuelle bedarfsgerechte Konfiguration erforderlich, und Wettbewerb belebt das Geschäft. Insgesamt aber wird es darauf ankommen, dass diese Systeme sich gegenseitig ergänzen: das starke öffentliche Rückgrat mit maximaler Bündelung von Fahrgästen und ein ergänzendes System, das diese starken Achsen für viele überhaupt erst erreichbar macht.

Städte und Regionen stehen vor der großen Aufgabe, ihren ÖPNV effizient, zuverlässig und attraktiv weiterzuentwickeln. Gleichzeitig müssen sie den vielen neuen Möglichkeiten Raum geben, die Mobilität von Unternehmen und ihren Beschäftigten sowie Quartieren und ihren Bewohner:innen so multimodal zu gestalten, dass der Besitz eines eigenen Pkw nicht mehr alternativlos ist.

Marcell Philipp

Marcell Philipp © Carl Brunn

Marcel Philipp hat als Oberbürgermeister der Stadt Aachen (2009 bis 2020) zahlreiche Projekte für eine nachhaltigere Mobilität angestoßen und durchgeführt. Aachen wurde zur digitalen Modellregion und hat seine Rolle als Hochschulstadt durch eine eindrucksvolle Campusentwicklung neu definiert. Die im Umfeld der RWTH Aachen entstandenen Impulse in der Elektromobilität waren für den gelernten Handwerksmeister und Betriebswirt der Auslöser für eine umfassende Beschäftigung mit der Zukunft der Mobilität. Marcel Philipp ist seit 1. November 2020 neuer Chief Executive Officer (CEO) des Aachener Unternehmens e.2GO – und damit Vorsitzender der Geschäftsführung. Die e.2GO hat sich zum Ziel gesetzt, bedarfsgerechte Mobilität für den urbanen und suburbanen Raum zur Verfügung zu stellen und plant, zukünftig umfangreiche Mobilitätsdienste in Städten zu etablieren.