Köln: 22.–23.05.2024 #polismobility

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Meinung: Energiesektor als Vorbild

Was kann die Energiewende von der Verkehrswende lernen?

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Die Verkehrswende braucht kluge Köpfe. Einer davon ist Kerstin Haarmann. Die Bundesvorsitzende des Verkehrsclub Deutschland e.V. (VCD) erklärt, warum ein moderner Rechtsrahmen und engagiertes Handeln entscheidend sind, um eine nachhaltige Mobilität zu erreichen. Ein Beitrag aus der neuen Ausgabe unseres polisMOBILITY Printmagazins „Public Interest“.

Kerstin Haarmann, Seitenansicht, fährt mit Fahrrad durch Straße

© Richard Westebbe

Was haben Energiewende und Verkehrswende gemeinsam? Richtig, die „Wende“ hin zum umweltfreundlichen Leben und Wirtschaften. Für den Verkehrsclub Deutschland e.V. (VCD) ist die Verkehrswende dann erreicht, wenn neben der Dekarbonisierung des Verkehrs jede:r – unabhängig von Wohnort, Portemonnaie oder körperlicher Verfassung – die Wahl hat, wie sie oder er bequem, sicher und umweltfreundlich von A nach B kommt und die Verkehrsmittel des Umweltverbundes – also Bus und Bahn, Fahrrad, Zufußgehen, Carsharing und Taxi – immer die erste Wahl sind! Dafür muss es ein entsprechendes Angebot an öffentlichen Verkehrsmitteln geben, die grundsätzlich Vorrang haben, und der ausufernde MIV muss eingehegt werden, etwa durch Einfahrts- und Durchfahrtsbeschränkungen in sensiblen Bereichen nach dem Motto „Einwohner First, Durchfahrer Second“, Sperrungen in Schulstraßen, eine Pkw-Maut, eine Begrenzung und angemessene Bepreisung des Parkens im öffentlichen Raum, strenge Kontrolle der Einhaltung von Schadstoff- und Lärmemissionen sowieso.

Wie können Energie- und Mobilitätswende gemeinwohlorientiert gelingen? Die Energiewende ist schon auf einem guten Weg. Denn es gibt mit dem modernisierten Energiewirtschaftsgesetz einen vernünftigen Rechtsrahmen und es gab – am allerwichtigsten – mit dem EEG ein mächtiges und sehr wirksames Instrument, das den Erneuerbaren Energien eine grundlegende, auskömmliche Förderung und vor allem den Einspeisevorrang gegenüber den konventionellen Energien gewährt hat. Dies alles geschah für das Gemeinwohl, denn der Ausstieg aus den fossilen Energien ist zur Abwendung der drohenden Klimakrise alternativlos. Jedenfalls solange es keine klimafreundlichere Energieerzeugung als die aus Sonne, Wind, Biomasse und Wasserkraft gibt.

Gemeinsam die Veränderung anstoßen

Ein weiterer entscheidender Faktor für das Gelingen der Energiewende waren einzelne engagierte Pionier:innen und die Bürger- energiegenossenschaften (Bürgerwindparks, Bürgersolaranlagen). Sie haben mit erheblichem technischem, wirtschaftlichem und politischem Engagement gegen fast übermächtige Widerstände der vier großen konventionellen oligopolistischen Energieversorger (EON, RWE, EnBW und Viag) gezeigt, dass die Erneuerbaren Energien, insbesondere die Windkraft, funktionieren und gewollt sind. Heute ist die EE-Branche mittelständisch geprägt mit einem hohen Anteil an Genossenschaften oder anderen Beteiligungsformen. Die Oligopolisten von damals sind spät umgeschwenkt und errichten jetzt ebenfalls große Projekte, allerdings vorwiegend offshore oder im Ausland. In Deutschland onshore sind ihnen bei den guten Standorten die Zivilgesellschaft und sich daraus entwickelnde kleine und mittelständische Unternehmen zuvorgekommen.

Von Vorbildern lernen und die Weichen stellen

Die Verkehrswende kann sehr viel von der Energiewende lernen. Es ergeben sich eine Reihe von Parallelen, auch wenn Unterschiede bleiben:

Der rechtliche Rahmen

Die Verkehrswende braucht dringend einen neuen Rechtsrahmen. Das Verkehrsrecht ist komplett veraltet und unbrauchbar für die Herausforderungen unserer Zeit. Das Straßenverkehrsgesetz ist aus den 1930er Jahren, Teile des Eisenbahnrechts aus dem 19. Jahrhundert. Der VCD als zivilgesellschaftliche NGO hat deshalb den Entwurf eines Bundesmobilitätsgesetzes vorgelegt, in dem endlich die Gemeinwohlorientierung als leitendes Ziel der Verkehrspolitik festgeschrieben wird, unter anderem mit den Einzelzielen Umwelt- und Gesundheitsschutz, Verkehrssicherheit, städtebauliche Entwicklung, Flächensparsamkeit und Effizienz des Verkehrssystems. Ferner sollen die Bundesverkehrswege mittels eines neuen Bundesmobilitätsplans integriert geplant und finanziert werden: Dort, wo künftig die Bahn ausgebaut wird, benötigen wir heute keine neue Autobahn.

Die richtigen Anreize

Der neue Gesetzesentwurf als wichtiges Steuerungsinstrument soll unter anderem Anreize für die Bundesländer geben, durch Selbstverpflichtung ihren Zielbeitrag für die Verkehrswende zu bestimmen und so entsprechende Finanzmittel vom Bund zu erhalten. Weiterhin können wir alle darüber hinaus die Verkehrswende voranbringen: Wir können uns in Nachbarschaftsinitiativen für Tempo 30 innerorts wegen Gesundheits- und Lärmschutz und zur Verbesserung der Verkehrssicherheit einsetzen und so die eigene Straße „zurückerobern“. Wir können Elterninitiativen für sichere Schulwege gründen und etwa für die Einrichtung von Schulstraßen werben, die temporär rund um Schulbeginn und -ende für den Autoverkehr gesperrt werden. Wir können das Deutschlandticket anschaffen, Fahrrad fahren oder auch Cargobikes und Carsharing nutzen.

Die Finanzierung der Wende

Auch muss die Verkehrswende auskömmlich finanziert werden: Allein für den Ausbau des ÖPNV sind nach Studien ca. 18-24 Milliarden Euro pro Jahr erforderlich. Das Geld ist bei der derzeitigen Haushaltslage mit Beschränkung der Investitionen durch die Schuldenbremse nicht in Sicht. Hier muss es eine gesicherte Finanzierung wie bei den Erneuerbaren Energien in der Energiewende geben. Ebenso bei der dringend erforderlichen Sanierung der Schieneninfrastruktur.; diese hat einen Investitionsrückstand in Höhe von ca. 90 Milliarden Euro. Von den Investitionsmitteln für den ebenfalls dringend erforderlichen Schienenausbau für die Verdopplung der Fahrgastzahlen ganz zu schweigen. Weshalb sollte dieses Kapital nicht durch Genossenschaften mit aufgebracht werden, an denen sich die Zivilbevölkerung beteiligen und eine moderate, aber stetige Rendite erhalten kann? Das Eigentum der Schieneninfrastruktur muss selbstverständlich im Bundesbesitz bleiben.

Zur Person

Portait von Kerstin Haamann

Kerstin Haarmann, Jahrgang 1966, ist seit fünf Jahren ehrenamtliche Bundesvorsitzende des Verkehrsclub Deutschland e.V. (VCD). Sie war internationale Unternehmensjuristin, unter anderem 5 Jahre Chefjustitiarin eines im MDAX notierten IT-Unternehmens.

Danach wechselte sie beruflich in den Bereich Nachhaltigkeit und ins Verbandsmanagement. Sie führt gemeinsam mit ihrem Mann eine gemeinnützige GmbH, die sich dem Nachhaltigen Wirtschaften und Leben widmet. Diesem galt auch ihr langjähriges aktives Engagement in der Lokalpolitik.

Kerstin Haarmann setzt sich für eine Mobilität ein, die den Menschen in den Mittelpunkt stellt, nicht einzelne Verkehrsträger.

Autorin

Kerstin Haamann