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ÜBER KRISEN UND CHANCEN

AUSBAU-BOOSTER FÜR ERNEUERBARE ENERGIEN

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Im Gespräch mit Prof. Claudia Kemfert, Leiterin der Abteilung Energie, Verkehr, Umwelt am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin).

Claudia Kemfert ist Professorin für Energiewirtschaft und Energiepolitik an der Leuphana Universität. © Roland Horn

Claudia Kemfert ist Professorin für Energiewirtschaft und Energiepolitik an der Leuphana Universität. © Roland Horn

Die Atomkraftwerke Neckarwestheim 2 und Isar 2 sollen bis April 2023 in Reserve bleiben und im Notfall hochgefahren werden, Emsland bis Ende 2022 abgeschaltet werden. Nun schlagen die politischen Wogen hoch, der Betreiber des Werks Isar 2, PreussenElektra, hält die Notreserve­Pläne von Wirtschaftsminister Robert Habeck für technisch nicht umsetzbar. Überdies ist Frankreich von deutschem Strom abhängig, hat Blackouts für den Winter sogar nicht ausgeschlossen. Wie bewerten Sie die Pläne für die Notfall­Reserve? Welche Marktreaktionen und ­dynamiken sind vor dem Hintergrund dieser Gemengelage denkbar?

Atomkraft hilft in der aktuellen Krise nicht. Die Stresstests zeigen, dass selbst im extremsten Szenario – welches im Übrigen auch eine extrem unwahrscheinliche Eintrittswahrscheinlichkeit hat – Atomkraft lediglich zu 0,5 GW Entlastung beitragen kann, also weniger als ein Prozent im Stromsystem Abhilfe schaffen kann. Viel wichtiger sind Netzreserven, Lastmanagement und der Einsatz von erneuerbaren Energien samt Flexibilitäten. Etwa die Hälfte der derzeit im Einsatz befindlichen Gaskraftwerke produziert neben Strom auch Wärme. Da helfen Atomkraftwerke nicht. Auf den Strompreis hat der Einsatz von Atomkraftwerken nur einen sehr geringen preisdämpfenden Effekt. Der Aufwand der Bereitstellung von Atomenergie in der Netzreserve ist enorm hoch, da das Atomgesetz geändert werden muss, Personal vorgehalten werden muss, sicherheitstechnische Überprüfungen stattfinden müssen und so weiter. Der Ertrag ist gering. Es ist unwahrscheinlich, dass – wie die Stresstests annehmen – bis zum Winter noch immer ein Großteil der französischen Atomkraftwerke nicht am Netz sein wird, dass in Deutschland wenig Regen fällt, und dass die Stromnachfrage exorbitant steigt. Aus dem Grund halte ich es für unwahrscheinlich und damit unnötig, dass die Atomkraftwerke länger als bis zum Ende des Jahres laufen werden. Und damit hat sich das Thema – hoffentlich – endlich erledigt.

Die Energiekosten sowohl für Wärme, als auch aber für Strom explodieren. Die EU­Kommission hat angekündigt, den Strommarkt reformieren zu wollen. Sie plädieren statt eines Eingriffs in den Strommarkt, d.h. konkreter statt der Entkoppelung des Strompreises vom Gaspreis, für eine Erhöhung des Stromangebots, d.h. der Strommenge, durch den Ausbau erneuerbarer Energien und Speicheroptionen, sowie für Energieeinsparung, um die Nachfrage und darüber die Preise zu senken. Warum halten Sie die Entkoppelung für das falsche Instrument?

Wir haben derzeit eine Stromkrise in Europa. Ausgelöst vor allem durch die Tatsache, dass in Frankreich über die Hälfte der Atomkraftwerke nicht am Netz ist, aus technischen Gründen und aufgrund des Klimawandels. Gaskraftwerke in Deutschland produzieren derzeit für die Franzosen Strom. In einer solchen Krise sollte das Angebot ausgeweitet werden und der Einsatz von Gaskraftwerken obsolet werden. Dies gelingt vor allem durch einen schnelleren Ausbau der erneuerbaren Energien, Flexibilitätsoptionen wie Speicher oder Lastmanagement und Stromsparen. Eine reine Entkopplung des Gaspreises vom Strompreis kann die Krise verstärken. Zum einen wirkt es quasi wie ein Strompreisdeckel, was eine indirekte Subventionierung des Stromverbrauchs ist. Zum anderen hilft es auf der Angebotsseite nicht.

Wie kann ein effektives Energie­ und Lastmanagement aussehen?

Indem wir vor allem viel mehr auf Flexibilitäten, Digitalisierung und Intelligenz setzen. Virtuelle Kraftwerke kombinieren alle erneuerbaren Energien samt Speicher und andere Flexibilitätsoptionen. Ein intelligentes dezentrales Netz sorgt dafür, dass keine Energie verschwendet wird und optimiert wird. Statt Windenergie oder PV abzuregeln, sollten sofort Speicher zum Einsatz kommen. Aber vor allem müssen die erneuerbaren Energien überall in Deutschland – auch und gerade im Süden – ausgebaut werden.

Bis 2030 soll der Bruttostromverbrauch zu mindestens 80 % aus erneuerbaren Energien gedeckt werden. Wind­ und Solarenergie müssen dreimal schneller als bisher ausgebaut werden. Ist dieses Ziel haltbar? Angesichts der derzeitigen Situation müssten wir so­ gar noch schneller werden?

Absolut! Wir benötigen dringend einen Ausbau-Booster aller erneuerbarer Energien in ganz Deutschland. Unternehmen müssen sich wieder ansiedeln, Deutschland und Europa sollten in einem Notfallprogramm PV-Module erwerben. Die Genehmigungsverfahren müssen entschlackt und beschleunigt werden. Wenn wir in diesem Land in vier Monaten Flüssiggasterminals bauen können, sollte dies für den Bau von Windanlagen auch möglich sein. Wenn man will, gibt es Wege. Wenn man nicht will, gibt es Gründe.

Wie lässt sich der Ausbau erneuerbarer Energien beschleunigen? Was ist hier aus Ihrer Sicht erforderlich seitens Politik, Industrie und Gesellschaft? Sehen Sie das Erneuerbare­Energien­Gesetz weiterhin als ein wirkungsvolles Instrument zum Ausbau erneuerbarer Energien an?

Eine Vielzahl von Maßnahmen ist notwendig, um den Ausbau der erneuerbaren Energien zu beschleunigen. Die Politik muss weiterhin die Rahmenbedingungen verbessern und hat mit dem Osterpaket viele wichtige Schritte in die richtige Richtung eingeleitet. Es geht vor allem um die Ausweisung von ausreichenden Flächen für Windenergie in jedem Bundesland, die Vereinfachung von Genehmigungs- und Planungsverfahren. Die Ausbaumengen erneuerbarer Energien müssen deutlich erhöht werden. Auch im Bereich Solarenergie bedarf es weiterer Anpassungen. Die aufwendige Zertifizierung von Solarenergie sollte erleichtert werden und die Grenze auf mindestens 500 kW angehoben werden sowie eine Beschleunigung der Genehmigungsverfahren und Abschaffung unnötiger steuerlicher oder technischer Barrieren erfolgen. Auch die Biomasse kann besser ausgelastet werden, ebenso die Wasserkraft. Auch existierende Speicher haben durch unnötige Umlagen marktwirtschaftliche Nachteile, die sollten abgeschafft werden.

Was ist aus Ihrer Sicht kurz­ bis mittelfristig realistisch leistbar, um die Situation zu entspannen? Welche Rolle spielt hierbei LNG?

Es wäre sehr viel leistbarer und umsetzbarer, wenn der politische Wille da ist. LNG-Terminals werden nur für den Übergang für die kommenden zwei bis drei Jahre benötigt, daher reichen schwimmende Terminals völlig aus, keine fest installierten, die bis 2039 umwelt- und klimaschädliches Gas nach Deutschland transportieren. Wenn wir die Klimaziele ernst nehmen, werden wir so schnell wie möglich aussteigen müssen aus fossilem Erdgas.

Der Netto­Zubau an neu installierten Windenergieanlagen war 2021 mit 1.677 MW auf einem relativ niedrigen Niveau, die Gesamtleistung wuchs gegenüber dem Vorjahr nur um drei Prozent. Im ersten Halbjahr 2022 wurde etwa 14 % mehr Strom aus erneuerbaren Energien erzeugt als in den ersten sechs Monaten des Vorjahres. Nach ersten Schätzungen der Arbeitsgruppe Erneuerbare Energien-Statistik (AGEE­Stat) lag der Anteil der erneuerbaren Energien am Brutto­Stromverbrauch damit bei etwa 49 %. Im vergangenen Jahr allerdings sank nach kontinuierlichem Wachstum in den Vorjahren die Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien witterungsbedingt deutlich – rund sieben Prozent weniger als beispielsweise im Jahr 2020. Was ist aus Ihrer Sicht notwendig, damit auch mit witterungsbedingten Schwankungen das Ziel klimaneutraler Energiegewinnung und Versorgungssicherheit erreicht werden kann?

Es wird ein deutlich schnellerer Ausbau von Windenergie notwendig sein, diesen schafft man nicht mit der Ermöglichung von Abstandsregeln. Windabstandsregeln sind, egal wo, kontraproduktiv und sollten grundsätzlich nicht ermöglicht werden, da sie ausbauhemmend wirken. Bürgerverträglich ist die Ermöglichung von Windabstandsregeln nicht, dazu wären finanzielle Beteiligungsmodelle besser geeignet, wie man sie beispielsweise in Mecklenburg-Vorpommern eingeführt hat. Allerdings gibt es dafür keine juristisch einheitliche Regelung, das sollte die Bundesregierung ermöglichen und auf Bundesebene verbindlich festlegen. Zudem sollte man die finanzielle Förderung über die Ausschreibungen anpassen in Richtung Systemdienlichkeit und Speicherung. Auch in Schwachwindregionen in Deutschland sollten effiziente Windanlagen zugebaut werden. Und die Genehmigungsverfahren müssen deutlich vereinfacht werden.

An der Energiewende hängt zu einem erheblichen Anteil auch die Mobilitätswende. Ist angesichts der derzeitigen Umstände das Ziel eines Bestandes von 15 Millionen Elektromobilen bis 2030 erreichbar?

Die hohen Preise für Benzin und Diesel machen Elektromobilität noch attraktiver. Wichtig ist, dass die Ladeinfrastruktur schnell ausgebaut wird, und dass die erneuerbaren Energien schnell mehr Strom produzieren. Die Verkehrswende bedeutet aber nicht ausschließlich den Austausch eines Motors, weg von Benzin und Diesel hin zu Elektro. Die Verkehrswende bedeutet eine Verkehrsvermeidung, Optimierung und Verlagerung. Wir benötigen deutlich mehr Mobilitätsdienstleistung, eine enge Verzahnung von Rad-, Fuß-, ÖPNV und Schienenverkehr sowie Elektrofahrzeuge.

Welche Marktveränderungen werden wir im Energiesektor Ihrer Meinung nach durch den Hochlauf der Elektromobilität erleben?

Elektrofahrzeuge sind effizienter als Benzin- und Dieselfahrzeuge und benötigen weniger Primärenergieverbrauch. Der Strombedarf wird zunehmen, im Zuge der Energiewende werden erneuerbare Energien schneller und mehr ausgebaut. Ökostrom ist gut kombinierbar mit der Elektromobilität. Elektromobilität ist eine wichtige Komponente im Zuge der Energiewende und Verkehrswende.

Welches Potenzial schreiben Sie Elektroautos als Speicher im Kontext der Energiewende zu?

Auch die Batterien der Elektrofahrzeuge können eine wichtige Komponente zur Entlastung der dezentralen Netze sein. Digitalisierung und intelligentes Energie- und Lastmanagement können ebenso dazu beitragen, dass Elektrofahrzeuge optimiert ins System hineinfließen. So können Energieverschwendung vermieden, die zentralen Netze entlastet und zudem Speicherpotenziale gehoben werden. Eine echte Win-Win-Win-Situation.

PROF. DR. CLAUDIA KEMFERT

Claudia Kemfert ist Professorin für Energiewirtschaft und Energiepolitik an der Leuphana Universität. © Roland Horn

© Roland Horn

leitet seit 2004 die Abteilung Energie, Verkehr, Umwelt am DIW Berlin und ist Professorin für Energiewirtschaft und Energiepolitik an der Leuphana Universität. Claudia Kemfert wurde 2016 in den Sachverständigenrat für Umweltfragen beim Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit berufen; sie war Beraterin von EU-Präsident José Manuel Barroso und ist in Beiräten verschiedener Forschungsinstitutionen sowie Bundes- und Landesministerien sowie der EU-Kommission tätig. Seit 2011 ist sie Mitglied im Präsidium der Deutschen Gesellschaft des Club of Rome.