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Zwischen Umbruch und Aufbruch: die Automobilindustrie bündelt ihre Kräfte

All Together Now

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Autonomes Fahren, Infotainment, Nutzererfahrung: Die Begriffe, die die Zukunft des Automobils beschreiben sollen, stehen in enger Verbindung mit fortschrittlichen Softwarelösungen. Um ihr Know-how bestmöglich zu bündeln, bilden deutsche Hersteller vermehrt Allianzen mit Tech-Start-ups. Dieser Schritt kann essenziell sein, um am Markt nicht den Anschluss zu verlieren.

All Together Now: Die Automobilindustrie bündelt ihre Kräfte

© CARIAD

Wie mittlerweile hinreichend bekannt ist, befindet sich die Automobilindustrie derzeit in einem tiefgreifenden Wandel. Einst als reiner Hersteller von Kraftfahrzeugen fungierend, sehen sich die OEMs (Original Equipment Manufacturers) heute gezwungen, infolge der Herausforderungen des Marktes ihre Geschäftsmodelle anzupassen. Eine treibende Kraft hinter dieser Transformation ist die zunehmende Digitalisierung und damit auch die steigende Bedeutung von Softwarelösungen in der Automobilbranche. Dabei geht es nicht nur um futuristische Infotainment-Systeme, sondern auch und vor allem um Vorstufen des autonomen Fahrens. So werden OEMs von reinen Herstellern zu Mobilitätsanbietern und Softwareunternehmen, die sich folglich mit ebendiesen messen müssen.

Starke Konkurrenz für deutsche OEMs

Derzeit befinden sich die deutschen Hersteller noch im Rückstand gegenüber Tech-Mobility-Giganten wie Tesla oder dem chinesischen Elektro-Riesen BYD, die zusammen für mehr als ein Drittel der weltweit sieben Millionen im Jahr 2022 verkauften Batterie-Elektrofahrzeuge verantwortlich sind. In der Vergangenheit waren sie vor allem auf die Produktion von Hardware und die Optimierung von Produktionsprozessen fokussiert; unter anderem aus diesem Grund verfügen sie über weniger Erfahrung und Kompetenzen im Bereich der digitalen Technologien und der Softwareentwicklung. Diejenigen Unternehmen, die am Markt zurzeit den Takt vorgeben, wurden teils erst im Zuge der Digitalisierungswelle gegründet und verfügen dementsprechend über ein hohes Maß an Expertise. Prof. Stefan Bratzel, Gründer und Direktor des Center of Automotive Management (CAM), bringt diese Entwicklung in unserem Interview auf den Punkt, wenn er betont, dass Tesla „das Auto auf die Software gesetzt“ habe, während die etablierten OEMs die Software ins Automobil integrieren mussten.

Zudem wandelt sich die Branche rasant: Allein in den letzten zehn Jahren hat sich der Fokus von reinen Hardwareprodukten hin zu softwarebasierten Fahrzeugarchitekturen verschoben. Eine der größten Herausforderungen für die Branche besteht nun darin, die entscheidenden Faktoren innerhalb dieser softwaregesteuerten Wertschöpfungskette präzise zu identifizieren und mit klarem Blick für die Zukunft zu nutzen und zu entwickeln. Eine 2022 herausgegebene Studie des CAM prognostiziert im Connected-Car-Bereich für 2030 ein weltweites Marktvolumen von über 200 Milliarden Euro; die zentralen Trends Konnektivität, autonomes Fahren, Shared Mobility und Elektrifizierung (CASE) basieren allesamt auf innovativen Software-Technologien und erfordern von Herstellern die Schaffung agiler Strukturen. Gemäß der Studie haben sich die Innovationen in diesen Feldern in den letzten zehn Jahren verdreifacht. Die wachsame Konkurrenz aus Asien und dem Silicon Valley verstärkt den Innovationsdruck ebenso wie die Erwartungshaltung der potenziellen Kundschaft, die in anderen Bereichen bereits in der digitalen Welt zu Hause ist und im Auto eine ähnliche Nutzererfahrung erwartet wie auf dem Smartphone oder Tablet.

Software first

Die vernetzte Stadt – daran arbeiten Softwareunternehmen und OEMs gemeinsam. © CARIAD

Software first

So wird die Bordtechnik immer mehr zu einem Unterscheidungsmerkmal der einzelnen Marken. Eine Studie der Unternehmensberatung Capgemini bekräftigt das und formuliert es drastisch: Deutsche Autobauer drohen den Anschluss zu verlieren. Es wird erwartet, dass diejenigen Unternehmen, die sich durch softwarebasierte Dienste profilieren können, einen höheren Marktanteil erzielen werden als ihre Wettbewerber. Das Credo lautet dementsprechend: Software first. Um die Entwicklungsrückstände ausgleichen zu können, haben sich daher in den letzten Jahren viele deutsche OEMs mit Softwareunternehmen zusammengeschlossen, die sich etwa auf Fahrassistenzsysteme, Bordelektronik oder Konnektivitätslösungen spezialisiert haben.

Das Beispiel Volkswagen etwa illustriert die Schwierigkeiten am digitalen Markt recht akkurat und steht „sicherlich ein stückweit für die Branche insgesamt“, wie es Prof. Stefan Bratzel formuliert. Mitte 2019 nahm der Wolfsburger Konzern die Software-entwicklung in die eigene Hand und gründete die sogenannte Car.Software-Organisation, die seit 2021 unter dem Namen CARIAD operiert – ein Akronym für „Car, I am digital“. CARIAD soll als eine Art Software-Basislager fungieren, aus dem sich Hauptkonzern und Tochterfirmen bedienen können, wenn es um die Einrichtung der Bordtechnologie geht. Der Start war bisher aber eher holprig: Neben Konflikten zwischen den Tochterfirmen lief auch die Entwicklung nicht reibungslos. Ende 2022 wurden erneut Verzögerungen im Betriebsablauf publik, die etwa den Markteintritt bereits lange geplanter Fahrzeuge verzögerten und nach Medienberichten gar das Ziel gefährdeten, die britische Luxus-Tochter Bentley bis 2030 komplett zu elektrifizieren. Der Start des elektrischen Audi Artemis wurde zum jetzigen Stand um etwa drei Jahre nach hinten verschoben und soll nun erst 2027 erfolgen. Dennoch: Volkswagen bleibt im Connected-Car-Bereich innovationsstärkster Konzern weltweit, noch vor Mercedes-Benz und Tesla, die das Feld der sogenannten „High Performer“ bilden. Insgesamt vereint Deutschland 30 % der globalen Innovationsstärke auf sich und liegt damit – vor China und den USA – weiterhin auf dem ersten Platz.

Kräfte bündeln durch Kooperationen

Um das VW-Infotainment an zukünftige Anforderungen anzupassen, kooperiert CARIAD mit dem Navigationsriesen TomTom. © CARIAD/TomTom

Kräfte bündeln durch Kooperationen

Um die Kräfte zu bündeln und die Anfangsprobleme abzuschütteln, ist CARIAD in den letzten Jahren einige Kooperationen eingegangen. Um auf dem chinesischen Markt etwa nicht ausgebootet zu werden, hat man sich kurzerhand mit dem dort ansässigen Software- und Chipspezialisten Horizon Robotics zusammengeschlossen. Das Joint Venture soll durch spezialisierte Mikrochips das Entwicklungstempo im Bereich des autonomen Fahrens anziehen und die Attraktivität der deutschen Fahrzeuge auf den asiatischen Märkten erhöhen, also dort, wo die Konkurrenz besonders groß ist. So besitzt beispielsweise der globale Kooperationsvertrag zwischen CARIAD und dem Navigationsspezialisten TomTom, der das VW-Borddisplay revolutionieren soll, in China allerdings keine Gültigkeit – dort sollen eigens entwickelte Systeme implementiert werden.

Im Bereich Forschung und Entwicklung hat CARIAD ebenfalls die Fühler ausgestreckt und eine deutsch-deutsche Partnerschaft mit Bosch in die Wege geleitet, die erst kürzlich vom Bundeskartellamt genehmigt wurde. Eines der Projekte, an dem die Unternehmen arbeiten werden, ist die Entwicklung einer 360°-Video-Perception-Software, die Signale von Kameras, Radaren und anderen Sensoren zusammenführen und per KI verarbeiten soll. Sie wird auch anderen Herstellern zur Verfügung stehen und kann langfristig dafür sorgen, Abstimmungsprobleme zwischen verschiedenen Herangehensweisen an das autonome Fahren zu beseitigen. Tesla etwa arbeitet mit Kameras, während viele andere Hersteller auf Radar- und Lidar-Technologien zurückgreifen.

Um ausgehend von den Softwareproblemen des Betriebssystems VW.OS auch den Kundenservice zu optimieren, plant CARIAD eine personelle Offensive: Ende Februar wurde die Übernahme der „Mobility-Services-Platform“ von Hexad verkündet, damit stoßen 75 weitere Software-Entwickler zu CARIAD hinzu. Das Software-Unternehmen verbindet mit VW bereits eine langjährige Partnerschaft und soll die Entwicklung der Cloud-Dienste vorantreiben. So könne dann unter anderem via KI-basierter „Predictive Maintenance“ Kunden signalisiert werden, in die Werkstatt zu fahren, noch bevor ein möglicher Schaden auftritt. Im Sommer 2023 soll der Kauf von Hexad abgeschlossen werden. Doch die Personaloffensive soll nicht nur durch Allianzen, sondern in weitaus größerem Maßstab erfolgen: CARIAD sucht allein in 2023 weltweit über 1.700 Software-Talente.

Auch Ford kooperiert im Wettbewerb um zeitgemäße Softwareentwicklung mit etablierten Zulieferern. Gemeinsam mit Mobileye, einer Tochtergesellschaft des Intel-Konzerns, sollen moderne Fahrerassistenzsysteme für die globale Produktpalette des US-amerikanischen OEM entwickelt werden. Kamerabasierte Vision-Sensing-Technologie und Vision-Processing-Software für die Autonomiestufen 1 und 2 sollen weltweit in Ford-Modellen eingesetzt werden. Somit nutzt Ford erstmalig Mobileye-Technologien über den gesamten Lebenszyklus künftiger Modelle hinweg. Außerdem werden schon seit 2021 Google-Karten und Cloud-Dienste in Mustang & Co. verbaut, um von der Marktposition des Internet-Riesen zu profitieren und die Technologie auf dem aktuellen Stand zu halten.

Der französische Automobilhersteller Renault arbeitet seit Ende 2022 mit dem israelischen Start-up Otonomo zusammen, das sich auf die Entwicklung von Lösungen für das Internet der Dinge (IoT) sowie das smarte Flottenmanagement spezialisiert hat. Ziel ist es, eine Plattform zur Verwaltung von Daten aus vernetzten Fahrzeugen zu entwickeln, die es Renault ermöglicht, die Leistung und Zuverlässigkeit seiner Fahrzeuge zu verbessern. Die dadurch gesammelten Fahrzeugdaten können etwa in der Weiterentwicklung des autonomen Fahrens genutzt werden.

Auch wenn die Zusammenarbeit zwischen OEMs und Softwareunternehmen nicht ohne Herausforderungen und gewisse Risiken verläuft – etwa die unterschiedlichen Arbeitsweisen oder die finanzielle Vormachtstellung der OEMs innerhalb der Kooperation – und auch die rechtlichen Fragen noch nicht restlos geklärt sind, bergen solche Modelle die Chance, dass beide Parteien gleichermaßen voneinander profitieren: Einerseits erhalten die Softwareunternehmen Zugang zu einem über Jahrzehnte aufgebauten Kundenstamm und einer renommierten Marke, andererseits verbessert sich die Marktposition der OEMs im internationalen Wettbewerb. Die Zukunft wird zeigen, ob es die angestammten Akteure auf lange Sicht mit der neuen Konkurrenz aufnehmen können und welche Marktdynamiken sich hieraus noch langfristig ergeben. Die Innovationskraft der Etablierten, meint auch Prof. Stefan Bratzel, sollte man jedenfalls nicht unterschätzen.